Familienverband

Hundhausen

Die Taubheit meiner Oma 

Diesen interessanten Aufsatz fand ich im Nachlass meiner Großeltern mütterlicherseits.

Meine Großmutter, Johanna Schrader Röthig (geboren 7. Nov. 1874, gest.am 23. Aug.1956 in Gummersbach) schrieb ihn ca. zwei Monate vor ihrem Tod. Er beschreibt die Einsamkeit eines tauben Menschen zur damaligen Zeit, als es so gut wie keine Hörhilfen gab.

 


Taub

 

„Es muß einmal heraus aus dem Kopf! Seit 30 Jahren nimmt es mir alle Verbindung zur Umgebung. Taub sein! Weiß jemand, der alles hört, was das heißt ??
Nein, er weiß es nicht! Sonst würde er mehr Teilnahme dem armen Betroffenen zeigen. Ich spreche ausdrücklich zeigen, denn das ist dem Tauben das innerste (?) Gefühl, daß jeder aber an ihm vorüber geht, ja ihn überhaupt nicht mehr beachtet und einfach stehen lässt. Und, was noch schlimmer ist, ihn
umgeht, wissentlich umgeht. Das heißt, den nächsten mit seinem Anliegen beschäftigt, um sich die Mühe zu ersparen, dem Tauben zu einer Verständigung zu verhelfen.
O wie oft, täglich und stündlich erlebt der Taube solche ganz selbstverständliche geistige Vereinsamung. Einfach zur Seite geschoben, ins Nichts!
Anfangs war ich verzweifelt, weinte nächte- und tagelang, bis der Arzt fragte: „Wollen Sie noch blind werden? Sind Sie froh, dass Sie noch sehen können und seien Sie zufrieden mit dem, was Ihnen der Schöpfer gelassen hat.“ Das ist alles so schnell und leicht gesagt.
Langsam, ganz langsam kommt eine Ruhe u. ein Ausgleich ins Gemüt. Das Herz sucht nach Anhaltspunkten für den fehlenden Sinn. Ein Buch ....(?) fremde Schicksale verwirren nur den Sinn und belasten die Gedanken. Tätigkeit! Schaffen!
Gott sei Dank, die Kraft ist mir ja geblieben. --
Warum verzagen? und dann , ganz langsam, kommen , da äußere Anregung fehlt, innere Bilder aus dem Unterbewußtsein und wollen rein, gleiten an Sinnen und Seele vorüber. O welch ein Reichtum tut sich auf!
Erinnerung, das herzliche Vermächtnis Gottes, das dem Menschen gegeben ist. Ob ich es schon vorgeahnt habe! Durch meine liebe unvergessliche Mama und Großmutter? In meiner Jugend sagten sie oft zu mir: „Schaffe dir solche Erinnerungen. Meide alles Häßliche, suche geistig wertvolle Menschen zu Deinem Umgang! Davon kannst Du später, wenn das Leben schwer und trübe wird, zehren.“ Haben sie mir Wegweiser bereits sein sollen?
Die herzliche Gabe, die mir Gott verliehen, eine edle, selten schöne Stimme, war mir gegeben. viele Menschen zu erfreuen und Edles in die Seelen zu tragen über eine Spanne meines Lebens - ein überirdisches Geschenk!
Krieg, Not und Elend mit einer großen Familie von 7 Kindern zehrten an den Nerven und Kräften, und langsam schlossen sich die Ohren und es wurde
still und stiller um mich.- - - - - - – - - -
Verrausch(t), verronnen- - - - - -“

 


 

Meine eigenen Erinnerungen an die Taubheit meiner Großmutter.

Johanna Schrader Röthig studierte von1895-1900 in Leipzig Gesang und war bald in der Region eine bekannte Sängerin. Am Konservatorium lernte sie auch meinen Großvater Alfred Schrader kennen. Sie heirateten bald, bekamen insgesamt sieben Kinder und meine Großmutter musste leider ihre Karriere zugunsten ihrer Familie opfern, worüber sie sehr traurig war.

Johanna Röthig 1895

Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg, wahrscheinlich aufgrund der Mangelernährung und täglichen Sorgen nach und nach taub und soll nach der Geburt des sechsten Kindes 1913/14 einen Hörsturz erlitten haben. Meine Cousine Ursula Ihlefeld (*1918 +2012) hat mir auf eine entsprechende Frage gesagt, dass die Oma bereits 1923 total taub war. Ich habe meine Oma nur als taube Frau gekannt. Zwei Möglichkeiten gab es, um sich mit ihr zu verständigen: Man musste ihr laut ins Ohr rufen, ja geradezu brüllen, damit sie einen verstehen konnte. Es gibt zwei Bilder von ihrer goldenen Hochzeit, die veranschaulichen, wie ihre Verständigung mit der Außenwelt war: Das bedeutete: Nur wenn sich ihr jemand zuwandte, konnte sie mit einer „Unterhaltung“ rechnen. ..Wenn man deutlich und langsam die Worte mit den Lippen formulierte, las sie einem auch die von den Lippen ab.

Bedingt durch ihre Taubheit, verfiel meine Oma, die als Sängerin früher reines Hochdeutsch sprach, wieder in ihren Lausitzer-sächsischen Dialekt. Die Kinder haben sie nie anders sprechen hören.


Oma hatte immer Zeit für uns. Wenn wir krank waren, saß sie an unserem Bett, erzählte sie uns von ihrer Kindheit und Jugend Geschichten, die so spannend waren, dass wir sie als Fantasie abtaten. Dass sie jedoch der Wahrheit entsprachen, entdeckte ich, als ich den Nachlass meiner Großeltern durchforstete.

 

Meine Großmutter hatte, wahrscheinlich aufgrund ihrer Taubheit, sehr vieles niedergeschrieben, unter anderem einen 23 Seiten umfassenden Lebensbericht, schreibmaschinengeschrieben, in der ich alle Geschichten, die sie uns, blumig ausgeschmückt, erzählt hatte, wiederfand. Sie brachte uns viele Karten- und Brettspiele bei wie Mühle, Dame, Halma und vor allen Dingen Schach. Aus heutiger Sicht hatte meine Oma einfach Zeit für uns und die nötige Geduld; und sie hatte jemanden, der sich mit ihr beschäftigte und ihr zuhörte. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen.

 

Oma Schrader hatte immer ein kleines Schiefer-Täfelchen (12 x 19cm) und einen Griffel bei sich, auf das derjenige, der ihr etwas sagen oder mitteilen wollte, dieses aufschrieb. Es war klar, dass auf diese Weise keine längere Unterhaltung zustande kam.

 

Dieses Täfelchen fand ich unlängst im Nachlass der Großeltern, wo es unter Dokumenten verborgen war. Ich habe mich darüber sehr gefreut und werde es in Ehren halten.

 

 

Paul Helmut Hundhausen