Familienverband

Hundhausen

An der Nordsee


Dieses Photo zeigt drei Generationen einer Großfamilie am Strand im August 1922, also vor fast 100 Jahren. Es ist windig an der Nordsee, wie die flatternden Fähnchen zeigen. Die Gesellschaft hat sich in einer Sandburg „verschanzt“, die zum Meer hin von drei Strandkörben geschützt ist. Keiner der Anwesenden trägt einen Badeanzug oder ist auch nur leger angezogen, im Gegenteil. Die vier Herren und der junge Mann präsentieren sich in Anzug und Krawatte, die zwei in der Mitte gar mit einem hohen Kragen des Typs „Vatermörder“. Die Damen tragen langärmelige Kleider, nur die Kinder sind etwas luftiger angezogen. Die Mädchen haben kurzärmlige Kleider an, die beiden Jungen stecken in Matrosenanzügen, immerhin mit kurzen Hosen.
Das Photo gehört Paul Helmut Hundhausen und zeigt in der Mitte neben der schräg stehenden Fahne seinen Großvater Paul Hundhausen senior. Er scheint ein bißchen grimmig zu schauen, wahrscheinlich kneift er aber nur wegen der Sonne, die im Rücken des Photographen steht, die Augen zusammen.

Die anderen Personen gehören zur Familie von Paul Hundhausens Bruder, dem „Wiener Hundhausen“. Er war der älteste Sohn des Eckenhagener Pfarrers Friedrich Wilhelm Hundhausen, der 14 Kinder hatte, und hieß ebenfalls Friedrich Wilhelm, wurde aber allgemein Fritz genannt. Er zog nach Wien und heiratete
Emma Steinweg. Die beiden sieht man als 2. und 3. von links, außen flankiert von ihrer jüngsten Tochter Liesel. Diese war mit einem leitenden Ingenieur der Firma Krupp in Essen verheiratet, nämlich Otto Dinkelacker, dem 5. von rechts. Der Herr mit dem Zwicker und die Dame neben ihm, die ihre Augen vor der Sonne schützt (2. und 3. von rechts), sind „Mariechen“, die ältere Tochter von Fritz und Emma, und ihr Mann Werner Müller, Textilfabrikant aus Bergneustadt.

Der einzige Sohn von Fritz und Emma, Fritz Rainer Hundhausen, ist nicht mit auf dem Bild. Es ist möglich, daß er der Photograph war oder aber aus beruflichen Gründen nicht mit an die Nordsee reisen konnte. Seine erste Frau Berta geb. Thill war zu diesem Zeitpunkt schon verstorben. Später heiratete er seine Kusine Lisbeth Hundhausen aus Gummersbach, eine Tochter von Paul Hundhausen sr. und damit Tante von Paul Helmut. Fritz Rainers Tochter Lotte ist das größere, blonde Mädchen, das vor Paul Hundhausen sitzt. Das dunkelhaarige, jüngere Mädchen links daneben ist Annemie Müller, ihre Kusine aus Bergneustadt. Der elegante junge Mann neben Annemie ist ihr Bruder Horst Müller, auf diesem Photo 16 bis 17 Jahre alt.

Ganz rechts sitzt Lulu Dinkelacker, und als 4. von rechts ist ihr Bruder Fritz Werner zu sehen, der im Zweiten Weltkrieg fallen sollte. Der kleine Junge, den Emma Hundhausen festhält, damit er für die Aufnahme ruhig sitzen bleibt, ist mir leider nicht bekannt. Nach der Hundhausen’schen Genealogie kann ich ihn nicht zuordnen. Ein weiteres Enkelkind bekamen die Wiener Hundhausens erst 1924, ein Mädchen namens Eleonore, die Tochter von Fritz Rainer und Lisbeth Hundhausen.

Der aus Muscheln gelegte Schriftzug „Deutsch-Österreich“ ziert die Vorderseite der Sandburg. Das war der Name, den das nach dem Ersten Weltkrieg von der großen Donaumonarchie übriggebliebene Alpenland sich geben wollte, was von den Siegermächten aber nicht gestattet wurde. Die auf der Sandburg wehenden Fahnen sind wahrscheinlich österreichische in rot-weiß-rot.

Fritz Hundhausen hatte in Wien eine Fabrik für Schirmkrücken, Tabaksdosen und ähnliches Kleinzeug aufgebaut. Bevor er 1923 starb, fragte er Paul Hundhausen jr., den Vater Paul Helmuts, ob er nicht nach Wien kommen und seinen Sohn Fritz Rainer bei der Leitung der Fabrik unterstützen würde. Paul Hundhausen war ausgebildeter Kaufmann und folgte dem Ruf nach Wien. Er konnte aber den Niedergang der Firma, der nach dem Untergang der Habsburgermonarchie die Absatzmärkte fehlten, nicht aufhalten.

Nachkommen des „Wiener Hundhausen“ gibt es noch aus der Linie seiner Tochter Mariechen, die aber nicht mehr den Namen Hundhausen tragen und auch nicht mehr in Wien wohnen, sondern in Deutschland.

Als das Photo aufgenommen wurde, war der 1. Weltkrieg noch nicht vier Jahre vorbei. Die „Goldenen Zwanziger Jahre“, also die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland von 1924 bis 1929 standen kurz bevor. Dann aber stürzte die Weltwirtschaftskrise Deutschland in Arbeitslosigkeit und Elend, und noch einmal vier Jahre später kamen die Nationalsozialisten an die Macht.

Von alldem wissen unsere Hundhausens noch nichts. Vielleicht war es für sie der erste Urlaub nach dem Krieg, zu dem sich die Wiener an die Nordsee begeben haben, um dort mit ihren Kindern und Enkelkindern Ferien zu machen. Wahrscheinlich trauern die Erwachsenen noch ein wenig der alten Zeit des Kaiserreiches nach und schauen gleichzeitig hoffnungsvoll in die Zukunft.
Nur 17 Jahre nach der Aufnahme dieses Familienphotos sollte der 2. Weltkrieg ausbrechen.

Alexander Iwantscheff